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Haltlos: So können sich erwachsene Kinder von Alkoholikern fühlen

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Der Vater, er war schon wieder betrunken. Konnte kaum sprechen. “Das ist normal”, beschwichtigt die Mutter. “Alle Väter trinken abends gerne Bier.” Das Bier, es machte ihn haltlos. Es gab der Welt eine übersexuelle Farbe. Es gab dem Kind das Gefühl, selbst ekelhaft zu sein. Die Hand des Vaters rutschte anders aus als die der Mutter. Und das Bier brachte noch viel mehr mit: Große Scham ein Leben lang und das Gefühl, nichts wert zu sein. (Text: © Dunja Voos, Bild: © Andreas Hermsdorf, www.pixelio.de)

Immer übel

Dem Kind war morgens immer schlecht. Doch wenn Vater und Mutter nicht ansprechbar sind, wird die Schule trotzdem zum rettenden Ufer. Eines Tages erschien ein guter Lehrer – wie ein Engel. An ihm hielt sich das Kind fest. Er zog es hinaus in die Welt der Bildung. Ein neues rettendes Ufer.

Die innere Welt ohne Halt

Doch in der inneren Welt änderte sich nicht viel. Panikattacken ergriffen das Kind und das Gefühl: Es gibt niemanden, den ich anrufen kann, niemanden der mich versteht. Es ist nicht zu verstehen. Es geschieht. Doch wo Halt finden? Jeder könnte Dreck am Stecken haben, jeder sich als Trinker entpuppen. Die haltlose Welt ist unsicher.

Wie ein Trinker

Als das Kind erwachsen ist, hat es Beschwerden wie ein Trinker. Es hat nie einen Tropfen angerührt und doch ist da immer diese Übelkeit und dieser Schwindel. Es wankt. Es hat Acne rosacea und ein Ekzem zwischen Handinnenfläche und Ringfinger. Nicht die Dupuytren-Kontraktur des Trinkers und doch ein ähnliches Bild. Es kann nie “Nein” sagen, denn dafür schämt es sich zu sehr. Es ist bedacht, bestimmte Worte nie in den Mund zu nehmen. Es will niemandem weh tun und verspricht zu viel. Es kann nichts halten.

Alkoholiker sind immer die anderen

Trotz aller Zeichen: Alkoholiker sind immer die anderen. Weit weg. Was der Vater trank, war doch normal.

… Oder?

Dem Kind, es dämmert ihm, als es schon ziemlich alt ist. Wenn auf einem Fest die ersten Leute beginnen zu wanken, rennt das Kind weg. In ihm wächst der Hass jedes Mal auf’s Neue, es kann den Kontrollverlust nicht ertragen. Haltlosigkeit überall. Das Gefühl der Kindheit wird manchmal weit hinausgespült, doch es kehrt immer wieder zurück.

Dreck am Stecken

Und immer dieses Gefühl, schmutzig zu sein. Aus dem Schlamm zu kommen. Schmuddelig zu sein. Egal, wieviel Mühe das Kind sich gibt: Es kann das nicht wegwischen. Anderen nicht trauen, sich selbst nicht trauen. Erhobenen Hauptes gehen die anderen. Der Schutzfilm der Privatsphäre fehlt. Jeder sieht die Scham. Der Kopf ist rot, wie der eines Trinkers. Und jeder könnte ein Trinker sein. Darum bleibt man lieber allein.


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